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Lamellenrüstungen der Wikingerzeit

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Übersetzt von Johannes Bühling.

vikingerikrig
Rekonstruktion eines Kriegers aus Birka, entnommen aus Hjardar – Vike 2011: 347.

Das Thema Lamellenrüstungen ist unter Fachleuten und Reenactoren gleichermaßen diskutiert. Ich selbst habe mich bereits mehrmals mit diesem Thema auseinandergesetzt und Literatur gesammelt. Bei meinen Nachforschungen stieß ich auf praktisch unbekannte Funde aus Snäckgärde, das in der Nähe von Visby auf Gotland liegt. Die dortigen Funde existieren heute nicht mehr, aber wurden vom Priester Nils Johan Ekdahl (1799-1870), der auch „der erste wissenschaftliche Archäologe Gotlands“ genannt wurde, beschrieben.

Der Grund dafür, dass die Funde aus Snäckgärde unbekannt sind, ist, dass sie vor beinahe 200 Jahren entdeckt und mittlerweile verschollen sind. Die Literatur über sie ist kaum verfügbar und nicht-schwedischen Gelehrten zumeist gänzlich unbekannt. Alles, was ich finden konnte, war folgendes: Im Jahr 1826 wurden vier Gräber mit Skeletten an einem Ort namens Snäckgärde (Visby, Land Nord, SHM 484) untersucht. Am Interessantesten sind die Gräber Nummer 2 und 4 (Carlson 1988: 245; Thunmark-Nylén 2006: 318).

Grab Nummer 2: Grab mit einem Skelett ausgerichtet in Süd-Nord-Ausrichtung, Sphärischer Hügel gesäumt mit Steinen. Die Grabbeigaben bestehen aus einer eisernen Axt, einem Ring nahe der Hüfte, zwei opaken Perlen im Halsbereich und „einigen Teilen einer Rüstung auf der Brust“ (något fanns kvar and pansaret på bröstet).

Grab Nummer 4: Grab mit einem Skelett in Ost-West-Ausrichtung, sphärischer Hügel, 0,9 Meter hoch, mit eingefallener Spitze. Im Hügel war ein Sarg aus Kalkstein mit den Maßen 3m auf 3m (?). Eine Gewandnadel wurde an der rechten Schulter des Toten gefunden. Auf Hüfthöhe wurde ein Ring des Gürtels entdeckt. Weitere Ausrüstungsstücke waren eine Axt und „mehrere Schuppen einer Rüstung“ (några pansarfjäll), die auf der Brust gefunden wurden.

Aus den Überresten des Begräbnisses kann angenommen werden, dass beide Männer mitsamt ihrer Rüstungen in diese Grabhügel gelegt wurden. Natürlich können wir nicht sicher sagen, welche Art Rüstung es war, aber augenscheinlich scheint es sich um Lamellenrüstung gehandelt zu haben – besonders aufgrund der Analogien und der Erwähung von Schuppen (Thunmark-Nylén 2006: 318). Die Datierung gestaltet sich problematisch. Lena Thunmark-Nylén erwähnte beide Rüstungen in ihren Publikationen über das wikingerzeitliche Gotland. Die Broschen und Gürtelfragmente deuten ebenfalls auf die Wikingerzeit hin. Jedoch sind die Äxte am Wichtigsten – gemäß Ekhdals Zeichnungen handelt es sich bei der Axt aus Grab Nr. 2 um eine Breitaxt, während die Axt aus Grab Nr. 4 einen mit Messing verzierten Stiel hatte. Die Breitaxt könnte aufs Ende des 10. oder den beginn des 11. Jahrhunderts datiert werden, während ein mit Messing beschlagener Griff eine Eigenheit einiger Äxte des frühen 11. Jahrhunderts ist (Themse, Langeid und andere Orte auf Gotland, siehe hierzu meinen Artikel „Two-handed axes“). Es erscheint logisch anzunehmen, dass beide Gräber im selben Jahrhundert errichtet wurden, obwohl es einige kleine Unterschiede hinsichtlich Konstruktion und Ausrichtung der Gräber gibt.

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Die Halle von Birka mit den Funden von Kettenringen und Lamellen. Entnommen aus Ehlton 2003: 16, Fig. 18. Von Kjell Persson.

In Skandinavien ist bis jetzt lediglich eine Analogie von Lamellenrüstungen (oder eher Fragmenten) bekannt – aus Birka (siehe z.B. Thordeman 1939: 268; Stjerna 2001Stjerna 2004Hedenstierna-Jonson 2006: 55, 58; Hjardar – Vike 2011: 193–195; Dawson 2013 u.a.). Die Lamellen waren weit über die sog. Garnison verteilt und alles in allem handelt es sich im 720 Stück (das Größte hiervon bestand aus 12 Lamellen). 267 Lamellen konnten analysiert und in 8 Typen unterteilt werden, die vermutlich dazu dienten, verschiedene Teile des Körpers zu schützen. Es wird angenommen, dass die Rüstung aus Birka Brust, Rücken, Schultern, Bauch und die Beine bis zu den Knien schützte (Stjerna 2004: 31). Die Rüstung wird auf die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts datiert (Stjerna 2004: 31). Gelehrte stimmen überein, dass sie nomadischen Ursprungs ist und aus dem Nahen oder Mittleren Osten stammt und dass die größten Parallelen zu Balyk-Sook bestehen (z.B. Dawson 2002Gorelik 2002: 145; Stjerna 2004: 31). Stjerna (2007: 247) vermutet, dass die Rüstung sowie andere herausragende Objekte nicht zum Kampf gefertigt wurden, sondern symbolischen Charakter hatten („Der Grund, diese Waffen zu besitzen, war sicherlich ein anderer als ein kriegerischer oder praktischer“). Dawson (2013) steht dem teilweise entgegen und behauptet, die Rüstung sei falsch interpretiert worden, da nur drei von acht Typen tatsächlich Lamellen hätten sein können und die Anzahl echter Lamellen nicht für einen halben Brustpanzer ausreiche. Seine Schlussfolgerung ist, dass die Lamellen aus Birka lediglich Stücke wiederverwerteter Schrott sind. Im Licht der Rüstungen von Snäckgärde, die nicht in Dawsons Buch enthalten sind, erachte ich diese Behauptung als vorschnell getroffen.

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Rekonstruktion einer Birka-Rüstung auf der Basis der Balyk-Sook-Rüstung. Entnommen aus Hjardar – Vike 2011: 195.

Viele denken oft, es gäbe viele Funde aus dem Gebiet des alten Russlands. Tatsächlich gibt es allerdings nur wenige Funde aus der Zeit des 9. bis 11. Jahrhunderts und wie die Beispiele aus Birka können auch diese als Importwaren aus dem Osten interpretiert werden (persönliche Unterhaltung mit Sergei Kainov; siehe Kirpichnikov 1971: 14-20). Aus diesem frühen Zeitraum stammen die Funde beispielsweise aus Novgorod. Das russische Material, das auf das 11. bis 13. Jahrhundert datiert werden, ist sehr viel ausgiebiger und umfasst über 270 Funde (siehe Medvedev 1959; Kirpichnikov 1971: 14-20). Jedoch ist es wichtig, anzumerken, dass bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts die Anzahl der Kettenpanzerfragmente um das vierfache höher ist als die Anzahl der Lamellenrüstungsfragmente. Dies deutet darauf hin, dass das Kettenhemd der vorherrschende Rüstungstyp im Gebiet des alten Russlands war (Kirpichnikov 1971: 15). Mit hoher Wahrscheinlichkeit stammte die alten russischen Lamellenrüstungen der Wikingerzeit aus Byzanz, wo sie aufgrund der einfacheren Konstruktion und der niedrigeren Kosten bereits im 10. Jahrhundert überwiegend auftraten (Bugarski 2005: 171).


Ein Hinweis für Reenactoren

Die Lamellenrüstung ist mittlerweile sehr beliebt unter Darstellern. Auf manchen Festivals und Veranstaltungen sind mehr als 50% der anzutreffenden Rüstungen Lamellenrüstungen. Die Hauptargumente für deren Benutzung sind:

  • niedrigere Produktionskosten
  • bessere Schutzwirkung
  • schneller herstellbar
  • sieht gut aus

Obwohl diese Argumente verständlich sind, muss betont werden, dass Lamellenrüstung in keinster Weise für das wikingerzeitliche Reenactment tauglich ist. Dem Argument, dass dieser Rüstungstyp von den Rus gebraucht wurde, kann mit dem Fakt begegnet werden, dass selbst zur Zeit der größten Ausbreitung von Lamellenrüstungen in Russland die Anzahl der Kettenrüstungen noch immer viermal höher war. Außerdem waren Lamellenrüstungen Importware. Wenn wir die grundlegende Idee beibehalten, dass Reenactment auf der Rekonstruktion typischer Objekte basieren sollte, dann muss klar sein, dass Lamellenrüstung nur für Byzantinisches und Nomaden-Reenactment verwendbar ist. Dasselbe gilt auch für Lamellenrüstungen aus Leder.

Ein Beispiel einer gut rekonstruierten Lamellenrüstung. Viktor Kralin.

Auf der anderen Seite deuten die Fragmente aus Birka und Snäckgärde darauf hin, dass dieser Rüstungstyp im ostskandinavischen Raum auftreten konnte. Bevor wir eine Schlussfolgerung treffen, müssen wir bedenken, dass Birka und Gotland Gebiete mit starkem osteuropäischem und byzantinischem Einfluss waren. Dies ist auch der Grund für die Häufung von Artefakten östlicher Herkunft, die anderweitig nicht aus Skandinavien bekannt sind. Es wäre seltsam, wenn wir diese Funde nicht hätten, besonders aus der Zeit, in der sie in Byzanz populär waren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Lamellenrüstungen in dieser Region häufig vorkamen. Lamellenrüstungen passen nicht zur nordischen Kriegertradition und Rüstungen dieser Art traten im Baltikum bis ins 14. Jahrhundert auf (Thordeman 1939: 268-269). Kettenrüstung kann sowohl im wikingerzeitlichen Skandinavien als auch im alten Russland als der vorherrschende Rüstungstyp erkannt werden. Diese Behauptung kann durch den Fakt verifiziert werden, dass auch in Birka selbst Kettenringe gefunden wurden (Ehlton 2003). Hinsichtlich der Produktion von Lamellenrüstungen im skandinavischen und russischen Gebiet gibt es keinen Beleg, der darauf hindeutet, dass die Rüstung dort produziert wurde. Daher ist eine solche Produktion höchst unwahrscheinlich.

Wenn Lamellenrüstung im wikingerzeitlichen Reenactment gedulded werden soll, dann

  • muss der Darsteller eine baltische oder Rus-Darstellung betreiben.
  • muss die Rüstung in begrenzter Anzahl verwendet werden (1 Lamellenrüstung pro Gruppe oder auf 4 Kettenhemden in der Gruppe).
  • sind nur Lamellen aus Metall erlaubt, nicht solche aus Leder oder sichtbar gelasterte.
  • müssen die Funde mit Birka (oder Novgorod) übereinstimmen, nicht mit Visby.
  • kann die Rüstung nicht mit skandinavischen Komponenten wie z.B. Schnallen kombiniert werden.

Die Rüstung muss wie das Original aussehen und muss durch passende Ausrüstung wie z.B. einen russischen Helm ergänzt werden. Wenn wir in einer Debatte zwischen den zwei Positionen „Ja zu Lamellenrüstungen“ und „Nein zu Lamellenrüstungen“ entscheiden müssten – ignorieren wir die Position „Ja zu Lamellenrüstungen (aber ohne die eben genannten Punkte in Betracht zu ziehen)“ einmal – dann wähle ich die Option „Nein zu Lamellenrüstungen“. Was ist eure Meinung?


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Literatur

Bugarski, Ivan (2005). A contribution to the study of lamellar armors. In: Starinar 55, 161—179. Online: http://www.doiserbia.nb.rs/img/doi/0350-0241/2005/0350-02410555161B.pdf.

Carlsson, Anders (1988). Penannular brooches from Viking Period Gotland, Stockholm.

Ehlton, Fredrik (2003). Ringväv från Birkas garnison, Stockholm. Online: http://www.erikds.com/pdf/tmrs_pdf_19.pdf.

Dawson, Timothy (2002). Suntagma Hoplôn: The Equipment of Regular Byzantine Troops, c. 950 to c. 1204. In: D. Nicolle (ed.). Companion to Medieval Arms and Armour, Woodbridge, 81–90.

Dawson, Timothy (2013). Armour Never Wearies : Scale and Lamellar Armour in the West, from the Bronze Age to the 19th Century, Stroud.

Gorelik, Michael (2002). Arms and armour in south-eastern Europe in the second half of the first millennium AD. In: D. Nicolle (ed.). Companion to Medieval Arms and Armour, Woodbridge, 127–147.

Hedenstierna-Jonson, Charlotte (2006). The Birka Warrior – the material culture of a martial society, Stockholm. Online: http://su.diva-portal.org/smash/get/diva2:189759/FULLTEXT01.pdf.

Kirpichnikov, Anatolij N. (1971). Древнерусское оружие. Вып. 3. Доспех, комплекс боевых средств IX—XIII вв, Moskva.

Medvedev, Аlexandr F. (1959) К истории пластинчатого доспеха на Руси //Советская археология, № 2, 119—134. Online: http://swordmaster.org/2010/05/10/a-f-medvedev-k-istorii-plastinchatogo-dospexa-na.html.

Stjerna, Niklas (2001). Birkas krigare och deras utrustning. In: Michael Olausson (ed.). Birkas krigare, Stockholm, 39–45.

Stjerna, Niklas (2004). En stäppnomadisk rustning från Birka. In: Fornvännen 99:1, 28–32. Online: http://samla.raa.se/xmlui/bitstream/handle/raa/3065/2004_027.pdf?sequence=1.

Stjerna, Niklas. (2007). Viking-age seaxes in Uppland and Västmanland : craft production and eastern connections. In: U. Fransson (ed). Cultural interaction between east and west, Stockholm, 243–249.

Thunmark-Nylén, Lena (2006). Die Wikingerzeit Gotlands III: 1–2 : Text, Stockholm.

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